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Muttis Haar

Mutti - , einen winzigen Moment lang zögert dieses Wort immer im Kopf, bevor es etwas verschämt über meine Lippen schlüpft. Kann eine alternde Frau ihre eigene, fast neunzigjährige Mutter noch so ansprechen? Ist es ein psychologisches Zeichen von unerfülltem Wunschdenken oder schlicht ein Ausdruck von Zärtlichkeit?
Nie bin ich auf die Idee gekommen, die Freundin meiner Mutter werden zu wollen und sie mit dem Vornamen anzusprechen. Auch bin ich ihr gegenüber nicht erwachsen genug gewesen, um sie in „Mutter“ umzubenennen. Vor der Fremdheit solcher Veränderungen habe ich mich gefürchtet.
Niemals habe ich mit ihr darüber ein Mutter – Tochter Gespräch geführt.
Sie blieb und bleibt also Mutti.

Zurück zu ihrem Haar.

Muttis Haar ist eine unerschöpfliche Quelle ihrer Scham. Ihr Haar ist rot, wie das ihres Vaters. Nicht etwa kupferrot und dicht – lockig fallend mit langen rassigen Beinen darunter, sondern rötlich blass und dünn. Mit ein wenig Schadenfreude bemerkt sie allerdings, daß die feinen Dauerwell – Löckchen ihrer jüngeren Schwester eindeutig röter sind.
Mein Großvater hieß im Dorf „ de rode Foss“. Man munkelte, er sei Kommunist oder mindestens Sozialist, was im zweiten Weltkrieg ein Todesurteil werden konnte. Oder waren es doch nur die roten Haare?
Er hatte nach dem ersten Weltkrieg irgendwie den Anschluss verloren und drehte unter der Oberaufsicht seines Bruders die Schranken im Bahnwärterhäuschen rauf und runter. Ob er so sehr darunter litt, daß er an manchem Freitag, wenn es Bares auf die Hand gab, mit seinen Kollegen solange feierte, bis seine Frau und seine Töchter ihn weinend und oft des Lebens müde im Straßengraben fanden?
Rote Haare sind also die Quelle allen Unglücks, das lernte meine Mutter, zumal man in den zwanziger und dreißiger Jahren auch in der Schule deswegen gehänselt wurde. Rothaarige Menschen schienen unberechenbar, jähzornig, wankelmütig und besonders für Männer sehr gefährlich; Hexen eben, auch wenn alle Vermutungen nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurden. Man konnte ja nie wirklich wissen, ob da nicht doch irgendwelche besonderen Kräfte am Werk waren.
Irgendwann berührte auch ich Muttis Haar. Ich weiß nicht mehr, wann es begann.

Es war früher Sonntagnachmittag. Papa lag nach dem Mittagessen auf dem Sofa und träumte.
Die Hitze unseres Küchenherdes begann langsam zu verblassen. Das Ofenrohr glühte nicht mehr. Die Abwaschschüsseln und das trockene Sonntagsgeschirr verschwanden in der Vitrine und das silberne Besteck in der Schublade unter der weiß - geplätteten Tischdecke.
Um zwei Uhr durfte ich die Kinderstunde in unserem Volksempfänger hören. Feierlich, in meinem selbst gestrickten Kostümchen, saß ich ganz dicht davor. Ich tauchte in das grün leuchtende magische Auge des Apparates und verschlang die Geschichten, die aus dem Stofffetzen vor dem Lautsprecher sprudelten.
Und dann war es soweit. Mutti saß auf ihrem Küchenstuhl, aus dem Radio tönte jetzt leise Operettenmusik und der Wasserkessel sang dazu vor sich hin.
Und jetzt durfte ich ihre Haare kämmen. Dünn und rötlich waren sie normalerweise am Nacken zusammengebunden und mit einem künstlichen Knoten aufgepeppt. Aber jetzt durfte ich behutsam dieses Haarteil lösen und berührte schüchtern zärtlich ein dünnes ganz verlorenes Schwänzchen.
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Vorsichtig strich ich mit einem Kamm über ihren Kopf. Es wurde ganz still um uns beide. Ich sah, wie sie heimlich für einen ganz kurzen Moment die Augen schloss, sich hingebend an meine streichelnden Hände; nur einen winzigen Augenblick lang. Dann war es vorbei. Energisch strich sie die Schürze glatt, setzte sich sehr gerade auf und strickte weiter. Nun war es auch genug, verlegen nestelte sie an ihrem Wollknäuel und stand unruhig auf, um die Gelatine auf die Obsttorte zu streichen.

Später dann wurden meine Finger geschickter und rollten freitags nach der Schule die Lockenwickler in ihre Dauerwelle. Der Knoten war aus der Mode gekommen.
Am Wochenende hatte das Haar zu sitzen, da gab es keine Nachlässigkeiten. Und damit begann für viele Jahre lang meine Aufgabe.
Ich rollte und rollte, die Wickler wurden ausgetauscht, wenn sie verbraucht waren, ich nicht.
Mit sechzehn war ich zornig, mit dreiundzwanzig ergab ich mich. Der Freitag durfte mal ein Samstag werden, aber spätestens Sonntagmittag hatten die Haare zu sitzen. Warme Zärtlichkeiten waren den Nachmittagen in meiner eigenen kleinen Familie vorbehalten, im Haus nebenan.
Meine Finger wurden langsam zu Klauen und rissen an der spärlichen Röte. Zorn floss in den klebrigen Haarfestiger. Hilflose Ungeduld föhnte die Luft um uns.

Und dann traute sich mein Nein, erst innen, dann außen.
Eine ganze Weile zerrten wir beide daran.
Als sich ein Grau in das Rot schlich, ließ meine Mutter endlich fremde Hände an ihre ewigrote Schamhaftigkeit. Gebeugt ergab nun sie sich und ihr Haar wurde weiß und brüchig.
Heute trägt sie einen praktischen Kurzhaarschnitt, der wenig Pflege braucht. Sie wäscht es immer noch selbst, auch wenn das Heben der Arme mühevoll ist. Manchmal schneide ich kleine Fussel aus ihrem Nacken .Er schimmert immer noch jugendlich schlank. Was würde geschehen, wenn ich zärtlich darüber streichen würde? Wird mir auch morgen der Mut dazu fehlen?
Irgendwann werde ich ein letztes Mal ihr Haar kämmen, unwiderruflich und zärtlich.