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Methusalem 2020

Methusalem 2020

Hastig saugte er an einem Zigarettenstummel. Er hatte ihn am Bahnsteig gefunden und sich dafür bücken müssen. Räder, nichts als Räder im Kopf. Geräuschlos nahm der Zug Fahrt auf.
Er kannte niemanden, keine Reisenden, keine Familien, nicht Wärme, nicht Kälte, keine roten Schlusslichter, die sich leise und unaufhörlich entfernten.
Auch die Bedeutung des Wortes „kennen“ kannte er nicht.
„Hier ist Kirche“, sagte eine der Stimmen in seinem Kopf. Sie sprach hell, wie die Stimme einer Frau, „ Wegweiser auf dem Boden, Linien, Linien, Zukunft“. “Hier wohnt Gott“, murmelte eine tiefe Stimme. Sie schien vertrauenswürdig. Er schaute sich um. Graue Vögel, manche mit abgehacktem Bein oder verstümmelten Zehen segelten durch die Luft, wie Boten des Himmels. Lichtblitze zuckten an dunklen, verschlossenen Schaufensterscheiben. Sie taten seinen Augen weh. Töne hallten durch die Luft, unheimliches Gewisper wurde von schrillem Pfeifen verschlungen. Seelenlose Stille raste auf ihn zu.
Nervös zündete er sich den nächsten Tabakstummel an, wie um sich festzuhalten.
Dieser Ort war unheimlich, leer und doch quoll er über. Unerbittlich drang er in ihn ein, nahm Besitz von ihm, bis ihm übel wurde und er zu zittern begann. Mit beiden Händen versuchte er zu rauchen. Der Tabak war alt und brüchig, nur mit dünnem Papier gehalten, mußte zum Rettungsanker werden, muss, muss, muss....
Etwas berührte seine Schulter, nur ein Hauch, aber deutlich spürbar. Er wirbelte herum, bereit zuzuschlagen, sich zur Wehr zu setzen.
Plötzlich war er nicht mehr unsichtbar, war bemerkt worden, die Wand zerschlagen, der Schleier zerrissen.
Die Zigarette lebte Schmerz in seine Hand. Erschrocken ließ er sie fallen. Er rannte, hetzte ins Nichts, in Schwingen aus Glas. Er sah sich hindurch rennen, es splitterte und klirrte, Blut, überall Blut. Die Sirenen hörte er nicht mehr.